Leseprobe: Die Blutlinie Edens Teil 3, Entfachen

 

 

Vor der Küste Jakartas, heute in unserer Zeitrechnung n.C.

 

Tschuruks Augen füllten sich mit Wasser, als der letzte blaue Funken vor seinem Blickfeld erlosch und sich seine Eltern für immer in Nichts auflösten. Es war schmerzlich, sie wieder so schnell zu verlieren. Nicht mal eine Woche war ihre Anwesenheit ihm und seinen Geschwistern vergönnt geblieben. So keimte in ihm nur die Hoffnung, dass er sie eines fernen Tages vielleicht wiedersehen könnte, wenn sie den Weg durch die Zeit erneut zu ihnen zurückfanden. Er fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augenlider und wischte sich die verdächtigen wässrigen Spuren weg. Als er einen Blick auf seine Geschwister warf, musste er feststellen, dass sie ebenso niedergeschlagen dastanden. Die einen hatten stumm den Blick fest auf den Boden geheftet, während andere wiederum, wie er, mit Tränen in den Augen zu kämpfen hatten. Tschuruk wandte sich wieder von ihnen ab und starrte stattdessen aufs Meer in die Dunkelheit hinaus. Er blinzelte, denn auf einmal glaubte er wieder blaue Lichtpunkte zu erkennen. Doch als er genauer hinsah, erkannte er, dass es Lichter weiter draußen auf dem Meer waren, die sich ihnen stetig zu nähern schienen. 
 „Scheiße“, fluchte er schließlich laut durch die Zähne. „Die Küstenwache ist im Anmarsch!“
 Seine Geschwister, nach wie vor in Gedanken und Trauer um den Abschied ihrer Eltern versunken, horchten erschrocken bei seinen Worten auf. 
 „Die Küstenwache, wo?“ Tschadu stellte sich an seine Seite und suchte vergebens mit zusammengekniffenen Augen den Horizont ab. Natürlich konnte er die Lichter, die sich ihnen näherten, noch nicht erkennen, da sein Sehsinn nicht so gut ausgeprägt war, wie der seines Bruders Tschuruk. So sahen für ihn im Moment all die weitentfernten Lichter am Küstenstreifen gleich aus. 
 „Da. Sie kommen direkt auf uns zu!“ Tschuruk streckte den Arm aus und wies mit dem Zeigefinger in die Richtung, wo sich ihnen das Boot der Küstenwache näherte. 
 „Einen besseren Zeitpunkt hätten sie sich nicht aussuchen können“, meinte Pit sarkastisch und starrte angestrengt in besagte Richtung. 
 Matt und Tschuruk hatten die Kommandobrücke für den kurzen Zeitraum von nicht einmal fünf Minuten verlassen, um ihre Eltern zu verabschieden und hatten dafür die Motoren abgestellt, sodass die Yacht nun gemächlich vor sich hindümpelte und sich sanft in den Wellen wog. Um aber der Gefahr zu entgehen, während dieser kurzen Zeitspanne unbeabsichtigt in der Dunkelheit von anderen Schiffen gerammt zu werden, die in den Hafen von Jakarta ein- oder ausliefen, hatten sie ihre Tarnung zur Küstennähe aufheben müssen. Was sich jetzt als gravierender Fehler herausstellte, denn genau während dieses kurzen Zeitraums hatte die Küstenwache ihr Schiff entdeckt und wie es schien, sogar versucht, sie erfolglos per Funk zu erreichen.
 „Mist! Ich gehe hinauf! Bringt ihr währenddessen Josh in Sicherheit!“, knurrte Matt und eilte auch bereits die Treppe nach oben. 
 „Pit, schnell, hilft mir, Josh ins Versteck zu bringen und ihr anderen beseitigt alle verdächtigen Spuren unserer Eltern!“, wies Tschadu seine anderen Geschwister mit einer auffordernden Armbewegung an. Dann wandte er sich ab und wollte gerade die Türe zum Innendeck öffnen, als Iunianna ihm hinterherrief: „Was ist, wenn Josh dort drinnen im Dunkeln plötzlich aus dem Koma erwacht und nicht weiß, wo er sich befindet? Er wird sich dann sicher lautstark bemerkbar machen wollen und sich und uns damit unweigerlich der Seepolizei verraten!“
 „Iunianna hat Recht!“, bekräftigte Iama. „Jemand muss bei ihm bleiben und dafür sorgen, dass er beim Aufwachen ruhig bleibt. Ich werde bei ihm bleiben.“
 „Nein, Tschuruk soll mit ihm gehen“, warf sich nun auch Drees in die Diskussion ein. „Nur für den Fall, dass sie uns für ein Verhör mitnehmen sollten. Ihr wisst ja, was mit Tschuruk passiert, wenn er mehrere Stunden ohne Blut ist! Und außerdem kann er in der Dunkelheit sehen und somit erkennen, wenn sich Josh regen sollte.“
 Alle nickten zustimmend und waren sich damit einig, dass Tschuruk seinen bewusstlosen Bruder begleiten sollte.

Sie hatten es gerade so knapp geschafft, alle verdächtigen Spuren verschwinden zu lassen, als das Schnellboot der Küstenwache auch schon bei ihnen ankam und ihre Yacht nach kurzer Rücksprache enterte. Schnell setzten zehn schwerbewaffnete Soldaten über. Darunter der Kommandant der Truppe, ein hagerer Mann, kaum eins sechzig groß, die Krempe seiner Uniformmütze tief ins Gesicht gezogen, sodass seine dunklen Schlitzaugen kaum zu sehen waren. Doch er hatte nicht mit solchen Hünen von Schiffsmannschaft gerechnet, die ihn hier erwartete, sodass er jetzt seine Mütze zurückschieben musste, um in die Gesichter der Männer aufschauen zu können. Doch statt Verwunderung war nur Argwohn und Strenge in seinem Gesicht zu lesen. 
 „Wir sind auf der Suche nach flüchtenden Sträflingen und haben Order, jedes Schiff nach ihnen zu durchsuchen, das sich in unseren Hoheitsgewässern aufhält“, sagte der Mann schließlich mit rauer Stimme und in gebrochenem Englisch an Matt gewandt, der sich mit verschränkten Armen vor seinen Geschwister aufgebaut hatte. 
 „Dürfen wir die Durchsuchungspapiere sehen?“, fragte Matt den Kommandanten. Dieser kramte in seiner Brustinnentasche und zog ein verknittertes Dokument hervor, das er dann Matt überreichte. „Sie sind der Kapitän?“
 Mattuschkal nickte und überflog kurz den Text des ihm überreichten Belegs. Als er mit der letzten Zeile durch war, gab er das Papier wieder zurück und trat dann mit ausgebreiteten Armen zur Seite. „Bitte.“ 
 Der Kommandant nickte und machte dann seinen Leuten ein Zeichen auszuschwärmen und das Schiff zu durchsuchen. 
 „Und jetzt hätte ich gerne ihre Bordpapiere und die Pässe sämtlicher Schiffspassagiere und Crewmitglieder“, forderte der Kommandant.
 Matt wies mit einer Kopfbewegung zum Kontrollturm: „Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“
 Nachdem der indonesische Offizier sämtliche Schiffsdokumente durchgesehen und die Fotos in den Pässen mit seinen Besitzern verglichen und kontrolliert hatte, runzelte er argwöhnisch die Stirn. „Und ihr habt wirklich keine Passagiere und kein Schiffspersonal mit an Bord, wie das?“
 „Nein, Sir“, gab Matt höflich zur Antwort und wies mit dem Kinn zu dem Stapel Pässe und Dokumenten, die vor ihm auf dem Tisch lagen. „Wie Sie aus den Papieren ersehen können, sind wir allesamt Wissenschaftler im Auftrag der Universität Hamburg und arbeiten an einem nicht gerade ungefährlichen Forschungsprojekt: dem Nachweis für Präbiotische Ammoniaksynthese aus Gasen von Tiefseevulkanen.“
 „Aha“, machte der Kommandant und starrte Matt von unten herauf mit offenem Mund an. „Es ist ja allein schon nicht gerade gewöhnlich, dass Wissenschaftler ohne Personal auf einem Forschungsschiff unterwegs sind, aber, dass ihr alle zudem noch von so außergewöhnlich riesiger Statur seid, ist schon irgendwie verdächtig. Wie erklären Sie mir das?“ 
 Matt schnaubte belustigt, was den Indonesier nur dazu veranlasste, ihn mit einem stechenden Blick zu strafen. 
 Sofort räusperte sich Matt entschuldigend. „Nun ja, wir sind alles alte Kollegen aus einer ehemaligen Studenten-Basketballverbindung und haben einst sogar zusammen in der höchsten Liga gespielt.“ Er drehte sich um, und wies mit der Hand auf die hintere Wand, wo mehrere gerahmte farbige Zeitungsbilder hingen, die verschiedene Basketballteams in Action oder Gruppenfotos mit lachenden jungen Spielern zeigten, die neckisch einen riesigen Pokal in die Höhe stemmten. Matt ging darauf zu und tippte mit dem Finger auf eines der Bilder, worauf ein Spieler zu sehen war, der gerade in die Höhe sprang, und den Ball in den Korb über sich versenkte. 
 „Sehen Sie, dass hier bin ich. Und auf den anderen Fotos können Sie sicher auch einige von meinen Kollegen hier wiedererkennen.“
 Der indonesische Kommandant trat näher an das Bild heran und studierte es aufmerksam. Dann blickte er plötzlich erstaunt auf und sein Blick streifte dabei verblüfft alle Gesichter der sich hinter ihm im Raum befindlichen Personen. 
 „Ihr habt bei den Harlem Globetrotters gespielt?“
 Matt kratzte sich verlegen an seinen Bartstoppeln: „Nun ja, ich habe doch gesagt, wir haben in der höchsten Liga gespielt.“ 
 Auf dem Gesicht des Indonesiers spiegelte sich nun Überraschung, Ehrfurcht, aber auch ein bisschen Missfallen. Ihm wäre es lieber gewesen, er hätte seinem Vorgesetzten die geflohenen Sträflinge präsentieren können, als einen Haufen junger Wissenschaftler, die zudem einst Profibasketballer waren. Zumal er für solche westliche Sportarten überhaupt nichts übrig hatte. Und doch waren ihm die Harlem Globetrotters ein Begriff, da er genug Kollegen in seiner Stammbeiz hatte, die über nichts anderes Reden konnten als über Ballsport. Nachdenklich studierte er nacheinander die Gesichter der Männer vor sich auf den Zeitungfotos. Er stutzte, irgendetwas kam ihm merkwürdig vor. Irgendwas war faul, etwas, das nicht zusammenpassen konnte. Irgendein winziges Detail, das nicht mit diesen Fotos übereinstimmte und doch konnte er im Moment noch nicht sagen, was es war. Er schaute genauer auf eines der Bilder und las im unteren Teil die Berichterstattung dazu. Und dann erkannte er, was nicht sein konnte. Das Foto war vor mehr als vierzig Jahren aufgenommen worden und doch sahen die Männer in diesem Raum nicht einen Tag älter aus als auf diesem Zeitungsschnappschuss.
 Ein Unteroffizier seiner Garde stürzte plötzlich laut und in indonesischer Sprache gestikulierend in den Kontrollraum und unterbrach den Kommandanten in seinen Gedankengängen. 
 „Wir haben im oberen Deck hinter der Bühne in einem Hohlraum zwei verdächtige Personen entdeckt. Sir, Sie müssen sich das unbedingt selbst ansehen! So etwas habe ich noch nie gesehen! Einer der Männer ist riesig! Mindestens zwei sechzig oder siebzig groß! Doch er ist bewusstlos und daher nicht ansprechbar. Und der andere weigert sich zu sprechen!“
 Der Kommandant warf einen abschätzigen Blick zu Matt, der sich mit keiner Mimik zu verraten gab, dass er alles verstanden hatte, was eben in indonesischer Sprache gesagt wurde. Die beiden Männer der Küstenwache konnten nicht ahnen, dass Matt und seine Geschwister alles verstanden und dass sie im Verlauf der Jahrtausende, in der sie nun schon auf der Erde wandelten, sämtliche Sprachen der Welt beherrschten. Matt warf seinen Geschwistern unbemerkt einen sorgenvollen Blick zu, während der indonesische Kommandant sich zu seinem Unteroffizier wandte und sagte: „Du bewachst diese Männer hier! Und sollte einer auch nur einen Finger rühren, erschießt du ihn.“ 
 Der Unteroffizier nickte: „Verstanden!“ 
 Dann richtete er, wie ihm befohlen wurde, sein Sturmgewehr auf die zwölf Geschwister, die sich besorgte Blicke zu warfen und befahl in gebrochenem English: „Runter auf Boden und Hände hinter den Kopf!“
 Matt runzelte die Stirn und tat so, als ob er nicht verstanden hätte, warum man sie dazu aufforderte. Doch als der Offizier ihm den Lauf der Waffe an die Schläfe drückte, ging er sofort, mit verschränkten Händen hinter dem Nacken, auf die Knie. Doch das war anscheinend noch nicht genug. Matt spürte, wie das kalte Eisen ihn weiter zu Boden drückte.
 „Flach hinlegen!“
 Der Kommandant nickte zufrieden, als sich die anderen elf ebenso gehorsam auf den Boden legten und ihre Hände hinter dem Kopf verschränkten, dann machte er auf dem Absatz kehrt und eilte die Treppe hinunter zum Hauptdeck. Dort angekommen, musste er nicht lange suchen, bis er zwei seiner Männer im Verbindungsgang zwischen Speisesaal und hinterem Deck vorfand. Beide richteten ihre Waffen in eine dunkle schmale Kammer, deren Wandvertäfelung sie vorher herausgerissen und einfach achtlos auf dem Boden neben sich geworfen hatten. Es war nicht zu übersehen, dass dieser Raum vorher von außen gut für das Auge getarnt gewesen war und als Versteck diente. Doch dank der neuesten Generation von Hohlraumdetektoren blieben solche Verstecke nun nicht mehr weiter verborgen. Der Kommandant warf einen Blick in den dunklen Hohlraum zwischen der Bühne vom Speisesaal und der Bordküche und erkannte im Inneren einen weiteren Kollegen seiner Mannschaft, der mit seiner Gewehrlampe in das Gesicht einer wahrhaft riesigen und scheinbar bewusstlosen Gestalt leuchtete, die rücklings auf dem Boden lag. Ein weiterer Mann, ebenfalls ein Hüne, aber bei Weitem nicht so groß wie der andere, wurde von zweien seiner Soldaten mit ihren Waffen in Schach gehalten und lag bäuchlings mit den Händen hinter dem Kopf verschränkt, auf dem Boden ausgestreckt. 
 „Los, steh auf. Die Hände bleiben, wo sie sind und dann kommst du langsam raus!“, befahl der Kommandant, der sicherheitshalber ebenfalls seine Handfeuerwaffe gezogen hatte und sie nun gegen den Hünen richtete. Der Mann am Boden hob zuerst vorsichtig den Kopf und blinzelte ins Licht, doch er war zu sehr geblendet, als dass er etwas erkennen konnte. Und damit er überhaupt ohne Hilfe seiner Hände aufstehen konnte, musste er zuerst das eine, dann das andere Bein an seinen Körper ziehen, erst jetzt konnte er sich auf die Knie stellen und dann aufstehen. Der Kommandant lächelte, denn immer wieder konnte er beobachten, wie sich die Leute nur zu dämlich anstellten, wenn es darum ging, ohne Hände aufzustehen. Doch dieser hier hatte damit keine Probleme. Der Mann, der ihm nun entgegentrat, war riesig, sicher über zwei Meter zwanzig groß, was den Kommandanten aber nicht davon abhielt, ihn grob an der Schulter zu packen und ihn dann mit dem Gesicht zur Wand zu stoßen, während einer seiner Männer dem Hünen den Lauf seiner Waffe zwischen die Beine stieß und ihm damit derb zu verstehen gab, diese zu spreizen. Der Kommandant tastete ihn währenddessen erfolglos nach einer Waffe ab. Dann wurde dem Hünen das kalte Eisen des Gewehrlaufs in den Nacken gedrückt.

Tschuruks Herz und Verstand rasten. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, diese drei Männer hier außerhalb der Kammer zu überwältigen. Doch der vierte, der drinnen Josh bewachte, machte ihm Kopfzerbrechen, denn dieser zielte mit seiner Waffe direkt auf den Kopf seines bewusstlosen Bruders und würde sicher nicht zögern, sofort abzudrücken. Nur zu dumm, dass er nicht schon vorher in der Kammer drin gehandelt hatte, tadelte sich Tschuruk selbst, dann hätte er alle vier gleichzeitig ausschalten können. Aber er musste die Lage schließlich vorher zuerst abchecken, um sicher zu gehen, dass nicht noch mehr Soldaten draußen auf ihn warteten. Fieberhaft überlegte er, wie er sich und seinen Bruder unversehrt aus dieser verschanzten Situation retten konnte. Dann kam ihn ein anderer Gedanke. Wie konnte es überhaupt sein, dass seine Geschwister es zuließen, dass man ihr Versteck hier fand? Das konnte doch nur bedeuten, dass sie selbst in argen Schwierigkeiten steckten und Hilfe brauchten.
 Gerade als einer der Soldaten ihm derb die Arme auf den Rücken drehte, um ihm Handschellen anzulegen, handelte Tschuruk. Er wirbelte so schnell herum, dass den Soldaten keine Zeit mehr blieb, sich auch nur irgendwie noch zur Wehr zu setzen. Mit Bewegung, die so schnell waren, dass kein normal Sterblicher mehr mitkam, schlug er die Männer mit gezielten Schlägen bewusstlos. Auch der vierte Mann in der Kammer wurde von ihm so schnell außer Gefecht gesetzt, dass dieser keine Möglichkeit mehr fand, den Finger am Abzug auch nur ein wenig zu krümmen. Tschuruks Puls raste immer noch heftig, als er erleichtert auf seinen Bruder hinabsah. Josh lag nach wie vor noch in einem komatösen Zustand, doch das konnte sich jeden Moment ändern, da seine Eltern und somit Joshs eigenes Selbst, nicht mehr in dieser Zeit verweilten und sich damit sein Körper wieder selbst regenerieren konnte. Er kniete sich zu ihm nieder und legte ihm seine flache Hand auf die Stirn. Das Fieber war abgeklungen und er atmete wieder gleichmäßig, auch hatte sein Gesicht bereits wieder etwas Farbe bekommen. Ja, es würde nicht mehr lange dauern und Josh würde bald aus seiner Bewusstlosigkeit erwachen. Doch im Moment musste Tschuruk ihn sich selbst überlassen, denn seine anderen Geschwister brauchten offenbar ebenso Hilfe. Er kniff Josh freundschaftlich in die Wange, erhob sich und trat hinaus auf den Flur. Gerade als er über die drei niedergestreckten Soldaten am Boden stieg, hörte er das leise Stöhnen seines Bruders. Er schaute zurück und sah, wie Josh knorzend seine Glieder reckte und sich dann blinzelnd aufsetzte. Tschuruk grinste: „Hey, Josh, alter Knabe, schön, dass du wieder unter den Lebenden bist! Wie geht es dir?“
 Josh runzelte die Stirn, sah fragend zu Tschuruk und erhob sich dann schwerfällig auf die Beine. Er rollte mit den Schultern, dehnte den Hals, gähnte noch einmal kräftig und trat dann aus der Dunkelheit des Hohlraumes ins Licht. Er blinzelte noch etwas benommen und wäre dabei beinahe über eine der Wachen gestolpert, hätte ihn Tschuruk nicht im letzten Moment aufgefangen. Josh starrte verwirrt zu den drei Männern der Küstenwache, die zu seinen Füssen bewusstlos auf dem Boden lagen. 
 „Was…“ Er hustete und musste offenbar erst seine Stimmen wiederfinden. „Was ist passiert?“, fragte er schließlich mit belegter Stimme. Doch bevor Tschuruk ihm antworten konnte, bemerkte dieser aus dem rechten Blickwinkel eine Bewegung. Es gelang ihm gerade noch rechtzeitig, Josh wieder in den Hohlraum hinter sich zu stoßen, als auch schon ein erster Schuss fiel. Tschuruk strauchelte, ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Brustkorb und nahm ihm den Atem. Offenbar hatte das Geschoss seine Lungen durchdrungen. Und obwohl er kaum Luft fand, brüllte er wütend auf und wandelte dabei gleichzeitig seinen Körper in seine furchterregende Echsengestalt. Er wirbelte herum und wollte sich auf seinen Gegner stürzen, der vor seinem entsetzlichen Anblick zurückwich und vor lauter Schreck nicht mehr fähig war, den Abzug seiner Waffe zu betätigen. Doch weitere Geschosse, diesmal aus der entgegengesetzten Richtung, ließen ihn innehalten und seinen Körper unkontrolliert aufbäumen. Kreisrunde rote Flecken übersäten seinen Körper. Blut spritzte aus diesen Wunden auf Fenster, Boden und Wände. Und noch währen Tschuruk stürzte und sich bereits ein grauer Schleier auf sein Bewusstsein zu legen versuchte, nahm er wahr, wie die Geschosse, die auf ihn abgefeuert wurden, plötzlich und wie von Geisterhand aufgehalten wurden und einfach in der Luft schwebend verharrten.
 „Josh!“, war sein letzter Gedanke, als er mit einem Lächeln zu Boden sank und sich dann gänzlich Schwärze über ihn legte.

Josh trat mit finsterer Miene auf den Gang. Mit einer saloppen Handbewegung ließ er die schwebenden Geschosse einfach zu Boden fallen. Dann trat er zu seinem Bruder, der schwer verwundet zu seinen Füßen am Boden lag. Er kniete sich zu ihm nieder, nahm vorsichtig seinen Kopf in seinen Schoß und strich ihm sanft mit den Fingern über das blutbesprenkelte Gesicht. Tschuruks Augen flatterten, er wollte etwas sagen, doch es kam nur ein gequältes Gurgeln aus seiner Kehle. Blut füllte seine Mundhöhle, das sich dann über sein Kinn und Hals in einem Rinnsal auf Joshs Schoß ergoss. Tschuruk hustete und spuckte erneut Blut, dann fiel sein Kopf auf Joshs Knien schlaff zur Seite. Josh atmete hörbar laut aus. In diesem Moment wünschte er sich, er hätte die Gabe seiner Mutter geerbt, andere in Sekundenschnelle heilen zu können. Er besaß die Kunst des Heilens zwar auch, aber nicht so, wie es seine Mutter konnte und schon gar nicht mit einer solchen Geschwindigkeit. Er wusste, dass sein Bruder nicht tot war und Tschuruk sich auch selbst wieder heilen würde, denn schließlich war er unsterblich. Doch der Selbstheilungsprozess würde langwierig und sehr schmerzvoll für Tschurk werden. Im Moment konnte er nichts für seinen Bruder tun, denn ihm war es nicht möglich, gleichzeitig den Geist der Soldaten zu kontrollieren und dann auch noch Tschuruk seine Heilmagie zu übertragen. Man würde sich also später um seinen Bruder kümmern müssen; erst einmal musste er ein anderes Problem aus dem Weg schaffen. Er strich noch einmal zärtlich über Tschuruks Wange, faste mit beiden Händen unter seinen Hinterkopf, sodass er mit seinen Knien darunter wegrutschen konnte und bettete ihn dann sanft auf den Boden. Noch bevor er aufstand, streckte er seine geistigen Fühler aus und tastete das Schiff nach seinen Geschwistern ab. Erleichtert atmete er auf, als er ihre Anwesenheit immer noch auf der Yacht wahrnahm

Matt! Alles in Ordnung bei euch?
Mattuschkal hob seinen Kopf, als er Josh mentale Stimme in seinem Kopf vernahm. Er war gleichzeitig erstaunt und erfreut, seinen Bruder zu hören. Erst jetzt nahm er wahr, dass ihr Bewacher in seiner Bewegung erstarrt war und ihnen somit nichts mehr anhaben konnte. Hastig sprang er auf die Beine
Ja, alles in Ordnung! Dann zu seinen Geschwistern gewandt, „Hey, Josh ist wach, ihr könnt jetzt wieder aufstehen!“ Dann mit besorgter Miene wieder zu Josh: Wir haben Schüsse gehört, euch ist doch hoffentlich nichts passiert?
Mir geht’s gut, doch Tschuruk hat es arg erwischt! Er wird einige Zeit brauchen, bis er wieder auf dem Damm sein wird. Hör zu, Matt, uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich nehme zwölf fremde Energien in unsere Nähe wahr, die ich im Moment noch allesamt kontrolliere. Sechs davon sind hier bei mir, zwei im Gang zu unseren Schlafsuiten, einer unten im Salon und einer im Maschinenraum und dann sind noch zwei außerhalb unseres Schiffes. Ich nehme an, ein Boot der Küstenwache?
Korrekt!, bekam er umgehend die Antwort.
Und ohne weiter auf Matts Antwort einzugehen fuhr er fort: Ich brauche deine Hilfe hier und bring gleich noch Iunianna und Nat mit, damit sie sich um Tschuruk kümmern können. Die anderen versammeln alle Männer der Küstenwache unten vor dem Steg, damit ich ihnen vorher noch eine andere Erinnerung einpflanzen kann!
 Verstanden!, gab Matt mental zur Antwort. Er gab seinen Geschwistern die entsprechenden Anweisungen und eilte dann auch schon, gefolgt von Nat und Iunianna die Treppe ins untere Deck hinab.
Bei Josh angekommen, bot sich ihnen ein fürchterlicher Anblick. Tschuruk lag in einer Pfütze seines eigenen Lebenssaftes und regte sich nicht mehr. Sein ganzer Körper war übersät mit unzähligen Schusswunden, aus denen immer noch stetig Blut sickerte. So wie es aussah, hatte der Schütze wohl in blinder Panik sein ganzes Magazin auf ihn abgefeuert. Was ihm jedoch nicht zu verdenken war, musste er Tschuruk, in seiner gewandelten Gestalt, für einen Dämonen gehalten haben, der gerade dabei war, sich auf einen seiner Kollegen zu stürzen.
Ja, so musste es wohl für den Schützen ausgesehen haben, dachte Matt.
Als Iunianna ihren leblosen Bruder am Boden liegen sah, entfuhr ihr vor Entsetzen ein leiser Schrei und sie stürzte sich sogleich zu ihm auf die Knie. 
„Oh, Tschuruk, du dummer, dummer Narr! Warum musst du immer den Helden spielen und dich in solche Situationen begeben?“ Sie bettete seinen Kopf in ihren Schoß und strich ihm sanft die blutverklebten Haare aus dem Gesicht. Dann zog sie ein kleines Messer aus dem Oberschenkelhalfter unter ihrem Rock hervor und wollte sich damit gerade über das Handgelenk fahren, als Josh mit einem der indonesischen Männer auf dem Buckel aus dem Hohlraum trat und sie davon abhielt. „Er kann noch nicht trinken, seine sämtlichen inneren Organe sind zerstört! Ihr müsst ihm Infusionen verabreichen, anders kann er noch kein Blut zu sich nehmen.“
Nats Hand legte sich ihr auf die Schulter. „Komm, hilf mir, ihn auf die Krankenstation zu bringen. Dann können wir ihn mit Blut versorgen.“ 
Iunianna nickte, stand auf und steckte dabei ihr Messer zurück in den Halfter. Zusammen packten sie ihren verletzten Bruder an Beinen und Schultern und trugen ihn zur Krankenstation.

Keine zehn Minuten später schritt Josh unten an der Reling, die Gruppe Männer von der Küstenwache, die in einer Reihe vor ihm aufgestellt waren, ab und schaute dabei jedem einzelnen tief in die Augen. Alle standen so da, als ob sie zu Schaufensterpuppen erstarrt wären, ihre leeren Blicke dabei in die Ferne geheftet. 
 Josh war gerade mit der Gedankenkontrolle beim letzten Mann durch und wollte mit den Fingern schnippen, um alle wieder aufzuwecken, als Matt seine Hand packte. „Warte!“ Er wies mit dem Kinn zu dem Kommandanten. Josh verstand zuerst nicht, was sein Bruder wollte. Doch als dieser das Hemd und die Hose des Indonesiers kurz berührte und die blutbespritzten Kleider wie von Geisterhand wieder sauber wurden, wusste er, dass er beinahe einen Fehler gemacht hätte. Matt säuberte noch schnell die Kleider aller anderen, dann drehte er sich wieder zu Josh um und grinste: „Jetzt kannst du weitermachen.“ 
 Josh nickte dankbar, hob seinen Arm und schnippte dann mit den Fingern. Sofort kam Bewegung unter den indonesischen Männern auf. Sie blinzelten kurz und sahen sich um, doch keiner schien sich zu erinnern, was wirklich vorgefallen war. Auch war keinem von ihnen anzumerken, dass sie soeben manipuliert worden waren. Der Kommandant trat zu Drees und erklärte ihm, dass alles in Ordnung sei, und dass sie wieder freie Fahrt hätten. Dann gab er seinen Männern Anweisung, in ihr Boot überzusetzen, wo bereits die zwei anderen ihrer Mannschaft warteten, denen zuvor ebenfalls falsche Erinnerungen eingepflanzt worden waren. Als sie sich von der Yacht abstießen und Fahrt aufnahmen, drehte sich der Kommandant sogar noch einmal um und winkte freundlich.

„Ich liebe es, wie du das immer wieder hinbiegst!“ Matt trat schmunzelnd neben Josh und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Gemeinsam sahen sie dem Boot nach, wie es sich langsam von ihnen entfernte. 
 „Nun ja“, meinte Josh und fummelte nachdenklich an den Muscheln seiner Halskette herum. „Leider ist es für Tschuruk nicht so gut ausgegangen, wie für uns. Ich wünschte, ich wäre früher aus meinem Dämmerzustand erwacht und hätte noch rechtzeitig eingreifen können!“ 
 Drees wandte den Kopf zu seinem Bruder und drückte ihm fester die Schulter. „Er wird schon wieder!“ 
 „Ja, das wird er“, sagte Josh gedankenvoll und sein Blick schweifte ab ins Leere. Und nach einer kurzen Pause fragte er leise: „Unsere Eltern, sind sie…?“ Er räusperte sich. „Ich meine, wie haben sie’s aufgenommen?“ 
 „Nun, beide taten sich sichtlich schwer, uns schon so früh wieder verlassen zu müssen und in die Vergangenheit zurückzukehren.“ Matt drückte nochmals fest die Schulter seines Bruders, bevor er seinen Arm senkte. „Aber um dein Leben zu retten, haben sie damit keine Sekunde gezögert. Und ich denke, sie haben es geschafft, denn sonst wären wir nicht mehr hier an Bord. Und die Welt, wie wir sie kennen, hätte sich um uns herum verändert.“
 „Können wir das wirklich mit Gewissheit sagen?“ Josh betrachtete besonnen die Lichter in der Ferne, dann drehte er sich zu Matt um. „Ich meine, wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob unsere Erinnerungen noch die gleichen sind, wie jene, die wir noch hatten, bevor unsere Eltern wieder in die Vergangenheit gereist sind.“
 „Nun ja, das mag ja stimmen. Aber wichtig ist doch, dass wir überhaupt Erinnerungen haben. Erinnerungen zu wissen, wer wir sind und vor allem, wer unsere Eltern sind!“
 Josh nickte grimmig, presste die Lippen aufeinander und lächelte schließlich seinen Bruder an. „Du hast Recht. Na dann, nehmen wir Kurs zu unseren Freunden und…“ Er unterbrach sich selbst im Satz und runzelte die Stirn als er Iunianna schwer atmend und bleich hinter Matt im Türrahmen auftauchen sah. 
 „Tschuruk!“, presste Iunia laut atmend hervor und musste sich dabei mit einer Hand an einem der Türzargen abstützten. „Er hat sich einfach vor meinen Augen in Nichts aufgelöst!“