Leseprobe
Teil 2, Erschaffen
China, Hongkong heute in unserer Zeitrechnung n.C.
Im Kontrollzentrum herrschte große Aufregung, als plötzlich zwei unbekannte rote Zahlen auf dem Bildschirm des Überwachungsprogramms aufzublinken begannen und dazu noch ein schrilles Warnsignal einsetzte. Niemand hatte eine Ahnung, wem oder was die blinkenden Nummern zuzuordnen waren. Rufe und das Klappern von hektischen Schritten, die hin und her eilten, wurden laut und das Zischen von sich öffnenden und schließenden Schiebetüren war zu hören.
Kaliel, der nun schon zwei Drittel seiner Lebensjahre hinter sich hatte und deutlich vom Alter gezeichnet war, starrte ungläubig auf die riesige Mattscheibe vor sich. Er war einer der wenigen überlebenden Ur-Ibruianer, die den Planeten Erde vor über dreihunderttausend Jahren besiedelt hatten. Er und seine Mitgefährten kamen ursprünglich vom Planeten Ibru, einem Stern in einer weitentfernten Galaxie, und hatten sich freiwillig aufgemacht, den Planeten Erde zu erforschen und dabei sein reiches Vorkommen an Edelmetallen zu fördern. Sie kamen mit einer Sternenflotte durch ein Wurmloch, das beide Galaxien miteinander verband, wodurch sie Zeit und Energie sparten. Doch das Ende dieses Wurmloches hatte sich als Schwarzes Loch herausgestellt und so hatte jeder von ihnen gewusst, dass es eine Mission ohne Rückkehr werden würde. Nur ihre unbemannten Raumsonden, beladen mit den wertvollen Edelmetallen, sollten unbeschadet den gleichen Weg wieder zurück zu ihrem Heimatplaneten finden.
Sein hohes irdisches Alter hatte Kaliel nur dem Umstand zu verdanken, dass er ein auf Ibru Geborener war, wo ein Umlaufjahr etwa dreitausendsechshundert Erdenjahre entsprach. Und nur die Urabkömmlinge Ibrus, die nicht gerade einer Katastrophe oder dem Krieg zum Opfer gefallen waren, hatten bisher dieses hohe Erdenalter erreichen können, da ihre Gene nach wie vor der Willkür ihres Heimatplaneten folgten. Alle ihre Abkömmlinge jedoch waren dem Gesetz und der Zeit der Erde unterworfen und alterten dementsprechend auch schneller.
Der Bildschirm nahm die ganzen zwanzig Meter Länge und zehn Meter Höhe der vorderen Wand ein und zeigte in leuchtenden Ziffern die von ihm überwachten Personen auf der ganzen Welt an. Unzählige Nummern und Zeichen, die sofort Namen und genauen Standort der einzelnen Individuen bekannt gaben, sobald man mit dem Cursor darüberwischte. Nur die zwei neu rotaufblinkenden Punkte P1 und P2 wollten so gar nicht ins Bild passen und zeigten beim Darüberwischen auch keine Namen an.
„Kann einer dieses verdammte Gepiepse abstellen!“
Erneute Hektik kam auf, bis einer seiner Leute wohl den richtigen Schalter gefunden hatte, dann erlosch augenblicklich das nervtötende Warnsignal und nur das aufgeregte Stimmengewirr seiner elf Mitarbeiter war noch zu hören. Kaliel atmete erleichtert aus und widmete sich wieder den zwei ungewöhnlichen Punkten auf dem Bildschirm.
„Da kann etwas nicht stimmen. Die P-Serie gibt es schon seit Urzeiten nicht mehr!“ Er wandte sich zu seinem viel kleineren asiatisch-stämmigen Kollegen um, der direkt neben ihm saß und geschickt mit den Fingern die dreidimensionale und in die Luft projektierte Konsole bediente.
„Führe ein Backup durch, Lee, und starte das System nochmals neu!“
Lee nickte und tat, wie ihm befohlen. Die Daten verschwanden für wenige Sekunden von der Bildschirmfläche und alles wurde kurz schwarz, dann fuhr das System sogleich wieder hoch und augenblicklich wurden wieder sämtliche Angaben angezeigt. Doch die rot leuchtenden Punkte P1 und P2 blinkten nach wie vor beharrlich, als wollten sie Kaliel damit verhöhnen und sagen: Ha, hier sind wir. Hasch uns, wenn du kannst!
Kaliel runzelte ungehalten die Stirn und fixierte mit den Augen den Ort auf der Weltkarte, von wo aus ihm die zwei absonderlichen Punkte entgegenstrahlten.
Tektonikarena Sardona war darauf zu lesen. Er schüttelte resigniert den Kopf und rieb sich schließlich mit den Händen übers Gesicht. „Sardona, was zum Scheiß ist Tektonikarena Sardona?“
„Sir! Wenn Sie mir gestatten.“
Kaliel nahm die Hände vom Gesicht und blickte hinunter zu seinem Kollegen Lee. Dieser räusperte sich verhalten, während er zu ihm hochsah. Lee war nicht klein, sondern Kaliel riesig. Er und seinesgleichen waren Riesen unter den Menschen. Fünf Meter betrug die normale Durchschnittsgröße eines Ibruianer. Wobei Kaliel, von der Königsfamilie abstammend, sogar über dem Durchschnittswert lag.
„Die Tektonikarena Sardona gehört zum Unesco Welterbe“, klärte Lee ihn auf, „und ist eine besondere Gebirgsbildung in der Schweiz.“
Kaliel starrte den Mann an. Darauf hätte er mit seiner jahrtausendalten Lebenserfahrung auch kommen müssen. Er fuhr sich mit der Hand durch sein noch immer volles, aber inzwischen ergrautes Haar und seufzte innerlich. Sein Gedächtnis ließ in letzter Zeit ganz schön nach. Nun ja, es ließ nicht unbedingt nach. Aber wenn man schon so lange lebte wie er, musste man den Platz im Verstand nur noch wichtigeren Dingen einräumen und alles Unwichtige eben verdrängen.
Mmh, irgendetwas sagte ihm P1 und P2 doch? Aber die Erinnerungen dazu wollten einfach nicht in sein Gedächtnis vordringen.
Was war P1 und P2? Die P-Serie lag schon so lange zurück! Kaliel trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte. Mmh, die Zahlen dieser Serie sagten doch schon klar aus, dass es eine der ersten Überwachung überhaupt gewesen sein musste. Aber wen oder was haben sie damals mit der P-Serie überwacht? Doch so sehr Kaliel grübelte, es wollte ihm einfach nicht in den Sinn kommen. Wen haben sie dazumal auf der Erde als erstes überwacht?, sann Kaliel mit fest aufeinander gepressten Lippen nach. Langsam formte sich ein undeutliches Bild in seinem Kopf. Er fuhr sich mit den Händen erneut übers Gesicht und plötzlich wurde ihm ganz flau im Magen.
„Gibt es schon Satellitenbilder?“, fragte er Mallek, seinen GPS-Spezialisten.
„Noch nicht. Aber die Position wird genau in hundertachtundzwanzig Sekunden überflogen und anvisiert!“, gab Mallek ihm zur Antwort. Kaliel lehnte sich in seinem Stuhl zurück, tippte ungeduldig die Fingerspitzen aneinander und wartete. Ihm kam es so vor, als ob die Sekunden eher als Stunden verstrichen; und als dann die ersten gezoomten Bilder endlich aufflackerten, kniff er die Augen zusammen, beugte sich nach vorn, um besser sehen zu können und starrte ungläubig auf die hochauflösenden Satellitenfotos.