Sind Träume wirklich nur Schäume?

Die digitale Ziffer wechselte von 6:29 Uhr auf halb sieben, dann schrillte der Wecker.
Kelvin wälzte sich schlaftrunken zur Seite, streckte den Arm aus und langte nach der nervtötenden Uhr. Doch seine Hand tastete nur ins Leere.
 Er grunzte ein paar unverständliche Laute, drehte sich wieder zurück auf den Bauch und zog sich das Kopfkissen über den Kopf.
Doch der Wecker blieb unbarmherzig und wechselte zu einem pulsierenden unangenehmen Pfeifton. Fluchend kehrte sich Kelvin unter der Decke auf den Rücken und nahm das Kissen entnervt vom Gesicht. Ach ja, er hatte den Wecker am Vorabend mit Absicht auf seinen Schreibtisch gestellt, damit er ihn nicht unbeabsichtigt beim Aufwachen wieder abstellen und dann womöglich noch verschlafen würde. Doch jetzt nervte diese Uhr nur. Mit Schwung schleuderte er das Kissen in Richtung des schrillenden Störenfrieds.
Volltreffer! Der Wecker krachte zu Boden, das Plastikgehäuse zersplitterte und zwei längliche Batterien kullerten unter das Bett. Kelvin atmete erleichtert aus. Endlich Ruhe! Doch dann plumpste das Kissen, das immer noch halb von der Schreibtischplatte hing, ebenfalls nach unten und riss dabei Handy, Buch und Kugelschreiber mit sich auf die Dielen. Es schepperte und klapperte, Blätter wurden vom Tisch aufgewirbelt und folgten dem Kissen flatternd hinterher. Kelvin schrak bei dem Gepolter kurz hoch, legte sich aber sogleich wieder zurück, als keine weiteren störenden Geräusche mehr an seine Ohren drangen!
Einen Momentlang starrte er zur Decke und genoss die Stille. Nur noch fünf Minuten, dachte er bei sich und schloss die Augen.
Geraume Zeit später riss er plötzlich die Augen erneut auf und schnellte erschrocken hoch.
Entsetzt sah er auf die Uhr an seinem Handgelenk und stiess einen leisen Fluch aus. Schwungvoll verwarf er die Daunendecke, die neben seinem Bett auf dem Holzboden landete und sprang mit einem Satz aus den Federn. Doch als er ins Badezimmer hetzte, verhedderte er sich mit den Füssen in der Decke und stürzte längs weg hin.
Einen Moment blieb ihm die Puste weg, dann stöhnte er benommen: „Ah! Autsch!“ Schwerfällig setzte er sich auf und verzog das Gesicht zu einer schmerzvollen Grimasse. Sein Knöchel am Fuss pochte heftig und fühlte sich heiss und wund an.
„Fuck! Auu!“, jaulte er, als er sachte mit den Fingern über die geschwollene Stelle fuhr. Seine eigene Ungeschicklichkeit verfluchend, rappelte er sich auf und humpelte schliesslich ins Bad.
Nach einer scheinbar endlosdauernden Erleichterung seiner Blase, trat er vor das Waschbecken, stützte die Hände darauf ab und betrachtete sein Ebenbild im Spiegel. Ein unrasiertes Gesicht mit dunklen Rändern unter den Augen blickte ihm entgegen. Miesgrämig grinste er sein Gegenüber im Glas an, während er sich mit Daumen- und Zeigefinger über die Bartstoppeln an seinem Kinn fuhr. Eine schnelle Rasur musste noch herhalten, also schäumte er sich seine Bartpartien mit Seife ein und schabte eilig mit dem Handrasierer darüber. Als er gerade mit der Klinge über den Rand vom Kiefer zum Hals fuhr, um dort den letzten Rest seines Bartbewuchs weg zu scheren, spürte er einen stechenden Schmerz. Blut quoll aus einem Schnitt an seiner Backe.
„Au, fuck!“, stöhnte Kelvin und drückte schnell das Handtuch auf die verletzte Stelle. Mit einer Hand kramte er im Spiegelschrank nach der Verpackung mit den Pflastern und stieß dabei versehentlich das teure Parfümfläschchen seiner Freundin um. Polternd krachte das Flacon auf den Rand der Badewanne und zerbarst in tausend Stücke. Duftwasser und Glasscherben spritzten in alle Himmelsrichtungen. Kelvin wich erschrocken zurück und heulte dabei lautstark auf, weil er auf seinen verletzten Fuß aufgetreten war. Und erst als der Schmerz wieder etwas verebbt war, stellte er fest, dass er jetzt von oben bis unten mit Parfüm bespritzt war. Na super! Jetzt roch er auch noch wie eine Tunte! Und seine Freundin wird ihm bestimmt die Hölle heiß machen, wenn sie erfuhr, dass er ihr das teure Parfüm geschlissen hatte! Doch schnell verdrängte er die unheilverkündenden Gedanken, denn ihm blieb jetzt, weder für solche Griesgrämereien noch für Aufräumarbeit, keine Zeit mehr. Auch auf das Duschen musste er heute wohl oder übel verzichten.
Vorsichtig trat er zwischen den Scherben am Boden wieder vor die Waschschüssel, tränkte das Frottiertuch mit kaltem Wasser und wischte sich damit gründlich ab. Dann klebte er sich noch ein schmales Pflaster auf die blutende Schnittwunde an seiner Wange; und mit einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel, fuhr er sich mit den Fingern durch sein wirres dunkles Haar und fertig war der Mann! Er zwinkerte seinem Spiegelbild aufreizend zu und trat einen Schritt zurück, „Ahhh! Verdammt!“ und trat prompt mit dem Fersen auf einen spitzen Glassplitter.
Wieder in seinem Zimmer zurück, nahm er eine saubere Unterhose, eine Jeans und Socken aus dem Schrank und zog sich alles rasch über. Dann wählte er ein passendes langärmliges Hemd in dunkelblau - nicht das er gross hätte wählen können, er besass nur zwei Hemden zur Auswahl, ein altes verwaschenes Schwarzes und dieses neu gekaufte Blaue -, knüpfte es hastig zu und schlüpfte danach in schwarze Sneakers. Kelvin atmete erleichtert aus, zum Glück, waren die Schuhe tief genug geschnitten, sodass sein inzwischen stark geschwollener Knöchel problemlos hineinpasste.
Dann sah er wieder auf seine Uhr und erbleichte. Nur noch eine halbe Stunde! Sein Herz fing an zu rasen und Schweissperlen machten sich auf seiner Stirn bemerkbar. Aufgeregt fuhr er sich mit dem Arm übers Gesicht, und bemerkte zu spät, dass er dabei einen riesigen Schweissfleck auf dem Hemdsärmel hinterlassen hatte. Verärgert über sein Missgeschick verdrehte er die Augen und schallte sich selbst einen Idioten. Dann wanderte sein Blick zum Schreibtisch, wo er am Abend zuvor seine Unterlagen fein säuberlich zu einem Stapel sortiert hatte. Doch bis auf seinen Laptop und ein paar einzelne Blätter, war die Tischplatte nun leergefegt. Kelvin fasste sich mit der Hand an die Stirn und betrachtete verzweifelt das angerichtete Chaos. Hastig kniete er sich auf den Boden, packte das Kissen und warf es zurück auf das ungemachte Bett. Danach sammelte er die zerstreuten Blätter ein und ordnete sie erneut nach Seitenzahl. Als er den Stapel jedoch durchkontrollierte, fehlten davon zwei Seiten! Kelvin fand eine davon unter dem Bett, doch die Zweite schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Er suchte überall, doch die verflixte Seite war nirgendwo aufzufinden. Er besah sich den Schreibtisch nochmals genauer und überlegte, ob die Seite wohl unter den Korpus hätte gerutscht sein können. Er quetschte seine Finger unter die Ritze des schweren Kastens, hob ihn an und spähte darunter. Und tatsächlich entdeckte er dort das fehlende Blatt Papier. Das Möbel war jedoch so schwer, dass er es nicht mit einer Hand hätte hervorholen könnten. Also verrenkte er sich soweit, damit er mit seinen verletzten Fuss unter den Korpus gelangen konnte und versuchte so die Seite darunter hervor zu angeln. Doch das Blatt schien an den Dielen festzukleben und der Korpus wurde immer schwerer. Vor Anstrengung begann ihm der Schweiss von der Stirn zu tropfen. Gerade als er das Papier endlich mit dem Schuh zu fassen kriegte und es hervorziehen konnte, rutschte ihm der schwere Schrank aus den Fingern und krachte auf die Spitze seines grossen Zehs.
„Auuuuuu, au, au, au, auuuuu… verdammt!“, jaulte Kelvin und hüpfte auf einem Bein im Zimmer umher. Als der Schmerz endlich etwas nachgelassen hatte, setzte er sich auf das Bett, zog den Schuh und die Socke aus und besah sich mit schmerzverzehrter Mine seinen pochenden Zeh. Blut hatte sich unter dem Nagel gesammelt und das Fleisch darum, war rot und geschwollen. Auch sein Knöchel pochte nach wie vor und hatte in der Zwischenzeit die Farbe einer reifen Obergiene angenommen. Und dann einmal nicht zu reden von dem brennenden Schnitt unter seiner Fusssohle. Kelvin rümpfte die Nase und zog sich vorsichtig Socke und Sneaker wieder über. Dann fiel sein Blick auf das Papier, dass er unter dem Möbel hervorgezogen hatte. Er stand auf und hob das Blatt mit gerunzelter Stirn auf. Es war an einer Seite eingerissen und ein dicker schwarzer Striemen, der von seiner Schuhsohle stammte, prangte quer über dem Blatt, sodass nun einzelne Zeilen nicht mehr zu lesen waren. Wieder schimpfte er sich einen Idioten und sah auf seine Uhr. Jetzt aber nichts wie los!
Eilig stopfte er die Seite in den Stapel, packte alles in seine Arbeitsmappe und humpelte, die Mappe unter seinen Arm geklemmt, zur Türe. Zum Glück hatte er den Schlüssel stecken, sodass er nicht noch danach suchen musste. Hastig schloss er auf und trat in den Gang hinaus, doch bevor er die Tür hinter sich zu zog, machte er nochmals kehrt, schnappte sich seine Jacke, die hinter dem Türflügel an einem Haken hing, schlug die Türe abermals hinter sich zu und rannte los. Doch irgendetwas riss ihn an dem Kittel zurück. Es gab ein lautes Ratsch und er hielt nur noch den abgerissenen Ärmel der Jacke in der Hand. Verflucht nochmal, er hatte den Mantel in der Türe eingeklemmt! Und nun hielt er nur noch den abgerissenen Ärmel zwischen seinen Fingern. Er warf das unbrauchbare Stück Kleid kopfschüttelnd zu Boden und eilte schliesslich hinkend den Korridor entlang zum Ausgang. Draussen hingen dunkle Wolkengebilde am Himmel und Donnergrollen war zu hören. Als Kelvin hochsah, fiel ein schwerer Regentropfen auf seine Wange. Er zog den Kopf ein und rannte, so schnell es mit seinem verletzten Fuss möglich war, los. Er hatte den Campus noch nicht ganz überquert, als Blitze durch die Wolkendecke zuckten und sich die Schleusen im Himmel über ihn öffneten.
Patschnass, mit wild pochendem Herzen und rasselndem Atem erreichte er das Universitätsgebäude gerade noch rechtzeitig, bevor sich die Türen schlossen. Seine nassen Schuhe quietschten bei jedem Schritt, als er den Gang zum Klassenzimmer entlangeilte. Dort angekommen, musste er zuerst, vornübergebeugt, beide Hände auf die Oberschenkel gestützt, einen Moment verharren, um wieder zu Atem zu kommen. Als er hochblickte, bemerkte er, wie der Prüfungsleiter ihn ungeduldig ansah. Kelvin hob eine Hand, zum Zeichen, dass er gleich soweit sei. Wasser tropfte von seinen Haaren und seiner Kleider und hinterliess eine unschöne Pfütze auf dem gebohnerten Boden. Kelvin raffte seine Schultern und humpelte nach vorn zum Dozenten, um ihm seine Diplomarbeit abzugeben. Zu seiner Erleichterung, war seine Arbeit in der Mappe trocken geblieben.
Der Professor schaute mit gerunzelter Stirn auf den losen Stapel Papier, der ihm in die Hände gedrückt wurde. Dann blickte er Kelvin mit hochgezogenen Augenbrauen an und fragte: „Ist das alles?“
„Ähm… Ja?“ Kelvin stutzte und überlegte, warum der Professor ihn so schief ansah. Der Professor machte einen Schritt zur Seite und liess Kelvin den Blick frei auf die Arbeiten seiner Mitstudenten, die dahinter auf dem Schreibtisch lagen. Alle waren mit farbig glänzenden Deckblättern versehen und ordentlich spiral gebunden.
Ohoh!, dachte Kelvin und spürte wie Röte in seine Wangen stieg. Wie konnte er nur so dämlich sein, seine Arbeit nicht zu binden. Er schluckte trocken und wich dem bemitleidenswerten Blick seines Lehrers aus. Er drehte sich um und starrte direkt in die hämisch grinsenden Gesichter der anderen Mitprüflingen. Beschämt zog er den Kopf zwischen den Schultern ein und setzte sich schliesslich an den noch einzig freien Platz neben Susi. Eine pickelgesichtige und mindesten eine halbe Tonne schwere Brillenschlange, wie Kelvin sie bezeichnete, und die jetzt, aufgeschreckt durch seine tropfenden Kleider, ein gehöriges Stück mit dem Stuhl von ihm wegrückte. Ausgerechnet neben Susi, musste er sich setzten, um die er bisher immer einen grossen Bogen gemacht hatte. Jetzt sah sie ihn, hinter ihren dicken Gläsern, mit grossen Augen an und ein breites Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. Dabei kam eine unschöne Zahnspange zum Vorschein. Kelvins Mundwinkel zuckten angeekelt, trotzdem versuchte er ihr ein gespieltes Lächeln zu zuspielen.
Zum Glück verteilte der Professor nun die Blätter mit den Prüfungsaufgaben, sodass er den Blick von ihr abwenden und seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes richten konnte.
„Die Blätter nicht anfassen, erst wenn ich es sage!“ mahnte der Dozent die Schüler.
Kelvin nahm aus seiner Mappe Rechner, Bleistift und Radiergummi und stellte alles vor sich bereit. Dann trommelte er nervös mit den Fingern auf die Schenkel seiner nassen Jeans und wartete, bis der Professor den Start zum Loslegen gab. Und als dieser endlich erfolgte, machte er sich sogleich an die Aufgabe.
Kelvin beugte sich vor, um die erste Frage zu lesen, dabei platschte ein Wassertropfen von seinem Haar auf das Blatt. Er fluchte leise, neigte sich zur Seite und schüttelte sich das Haar aus. Der Banknachbar neben an, wich empört zurück: „He!“
„Tschuldigung!“, raunte Kelvin.
„Mhm…mhm!“, machte der Professor und sah Kelvin streng an, als dieser zu ihm hochblickte. Kelvin zog gescholten den Kopf ein und setzte sich wieder gerade hin. Seine Haare tropften immer noch. Also nahm er seine Finger zu Hilfe, um die Nässe aus seinen Haaren zu kämmen, was wiederum den Sitznachbar hinter ihm in Aufruhr brachte. Er hauchte ein geringfügiges „Sorry“ über seine Schulter nach hinten, trocknete sich seine Hände an der immer noch feuchten Jeans ab und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu, und… erbleichte. Der Wasserfleck hatten die letzten paar Zeichen der ersten gestellten Prüfungsfrage unleserlich gemacht! Verzweifelnd grübelte er darüber nach, wie die Fragestellung wohl richtig lauten könnte. War das jetzt ein c im Quadrat, oder ein e? Kelvin, stützte die Ellbogen auf dem Tisch ab, legte den Kopf zwischen seine Hände und versuchte so unbemerkt auf Susis Blatt zu spähen. Doch diese blöde Kuh hatte ihren linken Arm darübergelegt, sodass ihm die Sicht darauf verwehrt wurde. Verärgert, ballte er die Finger an seinem Kopf zu Fäusten und studierte die nächste Fragestellung.
Er überlegte, schrieb einen Satz, hielt inne und kaute am Bleistift. Dann setzte er zu einem weiteren Satz an, rümpfte die Nase und schüttelte innerlich den Kopf. Nein, das war so nicht richtig. Er griff zum Radiergummi und rieb über das Niedergeschriebene. Aber anstatt, dass der Gummi die bleistiftgeschriebenen Wörter ausradierte, verwischte er alles nur noch schlimmer und hinterliess eine grässlich graue Schmiererei auf dem weissen Formular. Kelvin biss sich auf die Lippen, drückte den Radiergummi fester auf das Papier und rieb kräftiger. Plötzlich zerknitterte das Blatt unter dem härteren Reibungsdruck. Fuck! Kelvin starrte entsetzt auf das angerichtete Desaster. Mit den Fingern versuchte er das Papier, so gut es ging, wieder glatt zu drücken. Zerknirscht machte er sich danach daran, die restlich gestellten Aufgaben zu lösen. Er überlegte, tippte mit dem Stift an seine Lippen, dann notierte er seine Gedanken. Sein Bleistift kratzte über das Papier und… die Mine brach. Kelvin schloss die Augen und atmete schwer durch. Nahm denn dieses Pech heute kein Ende mehr? Dann kramte er in seiner Mappe nach dem Spitzer. Doch er fand keinen. Wieder einmal verfluchte er sich dafür innerlich selbst, er hatte ihn doch tatsächlich vergessen einzupacken! Er schielte zu seiner Sitznachbarin und entdeckte besagten Gegenstand in ihrem offenstehenden Stiften Etui, in Form eines…, er sah genauer hin, das darf doch nicht wahr sein! Der Bleistiftspitzer hatte die Form eines kleinen rosa Dildos!
Kelvin hüstelte, um auf sich aufmerksam zu machen. Doch Susi reagierte nicht auf ihn. Also stiess er sie mit dem Ellbogen an und wies mit dem Kinn auf den Dildospitzer in ihrem Etui. Sofort deckte Susi ihre Arbeit mit den Armen ab und sah ihn verärgert an.
„Brauche Spitzer.“, flüsterte Kelvin und machte mit den Händen eine entsprechende Bewegung.
Susis flache Hand klatschte ihm schallend ins Gesicht und hinterliess auf der Wange einen roten Abdruck. Zugegeben, im Nachhinein war die Handbewegung vielleicht nicht so angemessen. Aber wie anders, als eine Faust zu machen und mit dem Zeigefinger der anderen Hand darin zu bohren, konnte man pantomimisch jemanden klar machen, dass man einen Bleistift spitzen wollte.
Der Professor und alle anderen Schüler sahen bei dem knallenden Geräusch aufgeschreckt hoch und starrten in seine Richtung. Kelvin lief rot an, verdrehte die Augen und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Dann langte er einfach über Susi hinweg und schnappte sich den Spitzer, dabei erhaschte er einen Blick auf ihre erste Fragestellung und grinste. Susi schnaubte empört und versuchte ihm den gestohlenen Gegenstand wieder zu entwenden, doch bevor sie ihm ihr Eigentum wieder entreissen konnte, hatte er den Bleistift bereits zugespitzt.
Mit neuem Enthusiasmus machte er sich danach erneut an seine Aufgabe. Dieses Mal lief es besser. Er konnte alle Fragen korrekt beantworten und die dazugehörigen Berechnungen problemlos lösen. Zudem hatte er am Ende sogar noch genügend Zeit, um alles nochmals durchzugehen und nachzurechnen.
„Die Zeit ist um“, sagte der Professor, „bitte legt eure Stifte zur Seite. Ich werde die Prüfungen jetzt einsammeln.“
Kelvin atmete erleichtert auf.: „Nun, das war ja gar nicht so schwierig!“, dachte er bei sich.
Der Professor stolzierte den schmalen Gang zwischen den Pulten entlang und sammelte alle Arbeiten der Prüfungsabsolventen ein. Als er an Kelvin vorbeikam, hob dieser seinen Arm, um ihm die Prüfungsarbeit zu überreichen. Dabei fiel Kelvins Blick auf die Hinterseite der drei Blätter, die er noch in der Hand hielt und er erbleichte ein weiteres Mal an diesem Tag. Er hatte tatsächlich die Rückseiten übersehen und somit nur die Hälfte der Prüfungsfragen beantwortet. Ein schwerer Seufzer kam ihm über seine Lippen. Entmutigt schloss er die Augen.

Die digitale Ziffer wechselte von 6:29 Uhr auf halb sieben, dann schrillte der Wecker.
 Kelvin schreckte hoch und sah auf seine Uhr. Er blinzelte benommen, dann runzelte er die Stirn. Sein Blick schweifte zum Pult hinüber, wo seine Diplomarbeit fein säuberlich und spiralgebunden parat lag. Hastig schlug er die Decke von seinen Beinen, die achtlos zu Boden plumpste und besah sich seinen malträtierten Fuss. Da war weder ein gequetschter Zeh noch ein geschwollener Knöchel. Erleichtert atmete er aus und sank mit einem entspannten Lächeln zurück aufs Kissen. Alles war nur ein Traum gewesen!
Nur noch fünf Minuten dösen“, dachte er, schloss die Augen, drehte sich auf die Seite und zuckte zusammen. Seine Hand war beim Umwälzen auf die Seite auf etwas Warmes, Weiches gestossen. Irritiert öffnete er die Augen und starrte auf einen nackten Frauenkörper, neben ihm im Bett. Die Frau schnarchte und schlief auf der Seite, mit dem Gesicht von ihm abgewandt. Kelvin riss entsetzt die Augen weit auf und setzte sich auf. Das war nicht seine Freundin Gabi, mit ihren langen schlanken Beinen, ihrem sportlich durchtrainierten Körper und ihrem langen blond glänzendem Haar. Nein, die Person, die neben ihm lag, war das pure Gegenteil von ihr. Fettpolster hingen wabernd von ihren Hüften und den Oberschenkeln ihrer kurzen Beine und Arme, und ihr Haar, das sich über das Kissen ausbreitete, war lockig und braun. Die Frau grunzte und drehte sich auf den Rücken.
„Was ist los, Schatz? Kannst du nicht schlafen?“, fragte sie schlaftrunken und streckte ihren Arm aus, um nach Kelvin zu greifen. Doch Kelvin entzog sich ihr schnell und sprang stattdessen fassungslos aus dem Bett. Die Person, die vor ihm lag, war niemand Geringerer als Susi. Susi die pickelgesichtige Brillenschlange aus seiner Klasse. Kelvins Gedanken überschlugen sich. Wie konnte das nur sein? Hatte er gestern so viel getrunken, dass er nicht einmal mehr wusste, mit wem er ins Bett gestiegen war? Aber das konnte nicht sein, er wusste mit Bestimmtheit, dass er sich extra bei Zeiten schlafen gelegt hatte, damit er für die bevorstehende Prüfung am nächsten Tag, fit war. Also wie zum Henker kam diese Frau in sein Bett.
„Schatzilein! Mein Schnuggelchen! Was tust du denn. Es ist doch noch viel zu früh, um aufzustehen. Komm wieder zu mir ins Bett!“ Susi klopfte mit ihren speckigen Fingern neben sich auf die leere Matratze. Kelvin wich entsetzt und gleichzeitig angewidert zurück. Dabei verhedderte er sich mit den Füssen in der auf dem Boden liegenden Bettdecke. Er taumelte und griff mit den Händen ins Leere. Doch außer Luft bekam er nichts zu fassen und stürzte schließlich rücklings, wie ein gefällter Baum, der Länge nach hin. Sein Kopf schlug hart auf, dann wurde es schwarz um ihn.

Die Ziffern der Uhr wechselten von 6:29 auf 6:30, dann schrillte der Wecker. Kelvin fuhr benommen hoch und rieb sich mit den Handballen die Augen. Was für ein schrecklicher Albtraum! Um sicher zu sein, dass er wirklich nicht mehr schlief, kniff er sich selbst in den Arm und schielte zudem vorsichtshalber neben sich auf die leere Seite seines Bettes und dann auf seine Diplomarbeit auf dem Pult. Alles wie gehabt! Erleichtert atmete er aus und ließ sich wieder in die Kissen zurückfallen. Einen Momentlang starrte er nachdenklich an die Decke, dann fielen ihm langsam wieder die Augen zu. „Nur noch fünf Minuten liegen bleiben!“
Unbemerkt atmete er dabei den grauen wabbelnden Dunst ein, der ihm der Nachtmahr in die Nase blies. Der Dämon schwebte über dem Bett und grinste schadenfroh auf Kelvin hinab! 
Runde drei kann beginnen!