Das Fräulein vom Lande

Mir ist sooo langweilig.
So öde, echt ächzend!
Würde ich in einer Stadt leben, so wäre wenigstens immer etwas los.
Dort könnte ich den Menschen zuhören, wie sie schwatzen und lachen; könnte beobachten, wie sie am Morgen gestresst zur Arbeit eilen und bei Feierabend stimmungsvoll durch die Gassen flanieren. Ich könnte den Autos zusehen, wie sie über die Strassen brausen, könnte ihr Hupen und das Quietschen ihrer Reifen vernehmen. Ich könnte die unzähligen Lichter bei Nacht bestaunen und der Melodie von Strassenmusikanten lauschen, oder den Feierlichkeiten von Tanz und Geselligkeit beiwohnen.
Aber hier auf dem Land, ist es sooo langweilig, so trist und monoton. Tagein, tagaus immer dasselbe. Hier hänge ich nur so rum und nichts passiert. Nichts, was meine Aufmerksamkeit wirklich erregen könnte. Jeden Tag die gleiche Leier! Ich spähe auf die Wiese hinaus, sehe den Kühen zu, wie sie grasen oder muhen. Wie sie mit ihren Schwänzen wedeln, um lästige Fliegen zu verscheuchen, oder wie sie hintereinander her trampeln und sich manchmal gegenseitig mit den Hörnern stossen, und am Abend schaue ich zu, wie sie vom Bauer von der Weide getrieben werden, um gemolken zu werden. Höre, wie er, der Rosi, seiner Leitkuh, ruft, und dann alle mit einem «Heiiii… Heiheiiiii…!» vor sich hertreibt. Und erst dann gibt es ein bisschen Abwechslung, wenn die jüngeren Rinder nicht willens sind, seinen Zurufen zu folgen, und einfach in eine andere Richtung davon traben. Dann rennt der Bauer fluchend und mit fuchtelnd erhobenen Stecken in der Hand hinter ihnen her und scheucht sie die Wiese hinunter zum Stall. Ja, dann kommt wenigstens ein bisschen Action auf. Doch danach kehrt wieder Öde ein und ich frage mich, wie halten die Tiere diesen Stumpfsinn nur die ganze Zeit aus. Jeden Tag immer dasselbe!
 Ja, die Stadt hätte es schon in sich. Würde ich dort leben, könnte ich die Gespräche der Leute mitverfolgen. Könnte ihrer Musik lauschen und mich leidenschaftlich an der Gesellschaft anderer erfreuen.
Aber hier ist es sooo langweilig. Nichts ist los!
Es ist einfach ein Jammer. «Seufz!»
Und meine Geschwister, mit denen ich hier den lieben langen Tag so rumhänge, sind noch grün hinter den Ohren. Jawohl, richtige Grünschnäbel sind sie noch! Kein vernünftiges oder ernsthaftes Gespräch kann man mit ihnen führen. Die ganze Zeit haben sie nur Flausen im Kopf und klopfen blöde Sprüche über die reifere Generation. 
Ach, es ist doch wirklich zum Verzweifeln.
Wäre ich ein Stadtkind, so überkäme mich bestimmt keine Langweile! Ich könnte den Alten auf den Parkbänken zuhören, wie sie miteinander diskutieren. Könnte ihren Disput über Politik und Wirtschaft mitverfolgen, oder ich könnte hören, wie sie ihren Enkeln Geschichten aus Büchern vorlesen. Ich könnte zusehen, wie sich die Kinder auf den Spielplätzen tummeln und sich die Jungen in den Parks mit Sport und Spiel vergnügen.
Aber hier auf dem Land, hänge ich mit meinen halbwüchsigen Geschwistern nur so rum. Dabei bin ich noch jung und voller Tatendrang. Manch einer würde sogar sagen, hübsch und gar sexy. Aber hier warte ich nur, bis mich jemand erblickt und meinen wahren inneren Kern und meine Reife erkennt. «Sooo langweilig, seufz!»

«Mein Fräulein!», höre ich plötzlich, eine mir unbekannte Stimme, sagen.
Huch, was ist denn das. Ich drehe mich um meine eigene Achse und mein Blick schweift über die Köpfe einiger meiner Geschwister hinweg.
«Hier! Ich sitze auf dem Ast über ihnen!»
Ich schaue hoch und erblicke ein nacktes und mit Hornschuppen bedecktes Klauenpaar, das den Ast über mir fest umklammert hält. Ein dunkler Körper beugt sich vornüber und ein Kopf wird sichtbar, aus dem ein gelber spitzer Schnabel ragt. 
Zwei schwarze Augen mustern mich leidenschaftlich: «Endlich! Ich hab so lange nach ihnen gesucht!»
Mein Herz macht einen Sprung. Was für ein Anblick! Genau nach meinem Geschmack. Ein glänzend schwarzes Gefieder und wohldefinierte Muskeln an den richtigen Stellen.
Ich klimpere verführerisch mit den Wimpern und frage: «Ach ja, und warum, wenn ich fragen darf?» 
«Man hat mir von ihnen erzählt». Der Vogelmann plustert seine Federn auf. «Nun ja, nicht gerade von ihnen selbst, aber von dieser Gegend und von ihrer Art.» Der Schnabel neigte sich ein bisschen weiter zu mir hinab. «Danach habe ich mich sofort auf die Suche nach jemanden, wie ihnen gemacht.»
Ich horche auf. Endlich zeigt jemand Interesse an mir! «Und sie wollen es wirklich mit mir versuchen?», frage ich entzückt.
«Oh ja, mein hübsches Fräulein! Sie können sich nicht vorstellen, wie lange ich mich schon nach jemanden sehne, der genauso ist, wie sie. Jemand, der so wundervoll nach Honig und süssem Nektar riecht, sodass mir regelrecht das Wasser im Mund zusammenläuft. Jemand mit so zart rosa Haut und roten Bäckchen, so voll und prall, dass mir bei ihrem Anblick vor Verlangen fast schwindlig wird», sagt der Rabe und flattert von seinem Ast.
Schnell greift er mit dem Schnabel zu und verschlingt die reife Kirsche mit einem Bissen.