Der Buchhalter

 

Da stand es. Rot auf weiss. 
 Er riss den langen Papierstreifen von der Rechenmaschine und starrte die rote Zahl des Endergebnisses an. 
Minus 17 Millionen! Unmöglich! Das konnte nicht stimmen. Sicher hatte er sich irgendwo beim Zusammenzählen vertippt. Also begann er nochmals von vorn. Zählte jede einzelne Einnahme, der drei vor ihm liegenden und mindestens 30 cm hohen Quittungsstapeln zusammen und blätterte dann die zwei Ordner mit den Rechnungen durch, um die Ausgaben von den Einnahmen abzuzählen. Flink huschten dabei seine Finger über die Tasten des Zahlenblocks. Die Maschine ratterte und druckte, spuckte eine lange Schlange Papier aus. Der Streifen wellte sich hinter dem Rechner über dem Schreibtisch hinaus bis zum Boden und fing sich dort in einen wirren Papierknäuel wieder. 

Es klopfte.
Nein, nicht jetzt!
Seine Finger verharrten über der Tastatur, seine Zähne knirschten und sein Blick schweifte über die digitale Ziffer der Rechnungsmaschine, der eben eingetippten Zahl. Dann sah er hoch und drehte den Kopf in Richtung Türe.

Meissner kam herein, trug zwei Ordner in den Amen und klatsche sie ihm neben dem Stapel Quittungen auf dem Pult. Blätter wirbelten hoch, verteilten sich über den Schreibtisch und ein paar flatterten zu Boden. 
„Die sind eben noch reingekommen! Muss bis heute Abend noch erledigt werden!“ Meissner machte auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder aus dem Raum. 

Ein schwerer Seufzer entrann sich seiner Kehle. Er fluchte leise und verwünschte den Meissner auf den Mond, oder besser noch jenseits der Milchstrasse. Er rollte seinen Stuhl nach hinten und beugte sich sitzend vornüber, um die heruntergefallenen Quittungen aufzulesen. Ein Blatt hatte sich am Boden ganz hinten unter der Schreibtischplatte versteckt. Also stieg er vom seinem Sessel und kroch unter das Möbel. 

Die Tür schwang mit einem lauten „Swusch“ auf und jemand betrat den Raum.
 „Müller?“, fragte Meissner.
 „Hier…Au!“ Er schlug sich den Kopf an der Tischplatte. Himmelherrgottnochmal!
Mit der einen Hand die Beule am Hinterkopf reibend und mit der anderen die Quittungen festhaltend, kroch er unter dem Tisch hervor.
„Ah, das sind sie ja!“ Meissner trat näher und runzelte die Stirn. „Was machen sie da unten?“
Müller warf ihm einen finsteren Blick zu.
Meissner räusperte sich, knallte zwei weitere Ordner auf den Schreibtisch und meinte dann ganz lakonisch: „Sollte auch noch heute erledigt werden!“, wandte sich ab und verliess das Zimmer, ohne weiter darauf einzugehen. Die Tür schlug hinter ihm ins Schloss und Müller, immer noch auf den Knien, starrte ihm fassungslos hinterher, während vor seiner Nase ein paar weitere Blätter zu Boden segelten.
Wieder stiegen in ihm Bilder hoch, die zeigten, wie Meissner, angekettet an einer Rakete, in die Unendlichkeit des Universums entschwand. Über seinen kreativen Gedanken schadenfroh grinsend, sammelte er die restlichen Papiere auf, dann stützte er sich mit dem Ellbogen auf der Sitzfläche des Stuhls ab und mit der freien Hand seines anderen Armes an der Tischkannte haltend, zog er sich empor. Ächzend kam er schliesslich hoch, setzte sich wieder auf den Sessel, rückte seine Brille zurecht und begann von neuem seine Quittungen und Rechnungen zu sortieren.
Er hatte gerade das letzte Blatt auf den mittleren Papierstapel abgelegt, als das Telefon schrillte. Er nahm den Hörer ab: „Müller.“
Mürrisch lauschte er dem Anrufer.
„Die Monatsauswertung? Ähm ja, ich bin gerade dabei…“ Er kniff verärgert die Augen zusammen. Himmel, habe doch nur zwei Hände, dachte er verzweifelt, während er gleichzeitig weiter den Worten seines telefonischen Gesprächspartners horchte.
„Morgen Vormittag?“, fragte er nun zusehends aufgebracht. „Ja, okay, ich werde schauen, dass ich es rechtzeitig zur Sitzung zusammenstellen kann.“ Er verdrehte die Augen und sein Puls stieg um fünfzig Punkte.
„Hm, Danke, ihnen auch einen schönen Abend.“ Er knallte den Hörer auf die Gabel und lehnte sich seufzend in seinem Stuhl zurück. Herrgottnochmal, das gibt eine Nachtschicht! 

Kaum hatte er die Arbeit wieder aufgenommen, da streckte Meissner seinen Kopf erneut zur Türe herein.
 „Müller, ich brauche die Aktennotizen zum Versicherungsfall Weingartner!“
Müllers Finger hielten über der Tastatur inne und sein Blutdruck stieg um weitere vierzig Punkte. Er wandte sich zu Meissner um und bedachte ihn mit einem: wenndunocheimalhierhereinplatztundmichweiterhinbeiderarbeitstörstdannschiesseichdicheigenhändigzummondhinauf Blick, stand auf und ging zum Schrank. Dann zog er den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche, steckte den passenden Schlüssel ganz unten am Kasten ins Schloss und drehte ihn um. Das Schloss öffnete sich mit einem Pling und Müller schob den rollladenähnlichen Deckel nach oben. Er griff nach einem Ordner, der fein säuberlich in Handschrift mit `Versicherungsfall Weingartner` beschriftet war und drückte ihn Meissner in die Hände. 
„Danke.“, sagte dieser ganz lapidar und machte, dass er aus Müllers Büro verschwand. 
Müller hingegen seufzte ein weiteres Mal schwer, schlurfte zurück zu seinem Pult und machte sich dann wieder an seine aufgetragene Aufgabe.

Als er mit dem Zusammenrechnen fertig war, starrte er erneut fassungslos auf das Resultat am Ende des langen Papierstreifens. 
17 Millionen Defizit! Er schnappte nach Luft während sein Blutdruck nun beinahe schon den Höchststand erreichte. 
„Ich will ja nicht stören, Herr Müller. Aber ich benötige noch dringend den Schreibverkehr zum Fall Rögner.“
Müller fuhr erschrocken herum. „Herrgott Meissner!“ Er fasste sich an die Brust. „Können sie nicht anklopfen!“ 
„Nicht Herrgott, Herr Müller.“, sagte dieser mit einem eigenartigen Grinsen auf den Backenzähnen. „Nicht Herrgott!“ 
„Was?“ Müller blinzelte und sah Meissner mit einem irritierten Kopfschütteln an, stand auf und stapfte schliesslich mit hängenden Schultern zu dem immer noch geöffneten Aktenschrank. Dort angekommen zog er die Schublade mit den Hängeregistermäppchen heraus und fand die Akte schliesslich unter dem Buchstaben R. Er reichte die Unterlagen mit einem: „Hier bitte“, an Meissner weiter; und wollte sich schon umdrehen, um wieder an seinen Platz zurück zu gehen, als Meissner fragte: „Sie sehen so bleich aus, ist ihnen nicht gut?“ 
Müller atmete einmal tief durch, winkte dann aber ab. „Nein, alles Bestens.“ Er wandte sich ab und fügte noch rasch über die Schulter zischend hinzu: „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen!“ 
Hinter sich hörte er Meissner grummeln: „Wollte ja nur höflich sein! Man darf ja wohl noch fragen.“ Absätze klackten über den Boden, dann fiel die Türe ins Schloss. 
Müller setzte sich mit dem unbehaglichen Gefühl eines schlechten Omens auf seinen Bürostuhl und rollte seine schmerzenden Schultern. Dann begann er das Budget mit der Monatsrechnung zu vergleichen, um dort etwaige Abweichungen aufzudecken. 
Seine beiden Zeigefinger fuhren die Zeilen der langen Zahlenreihen entlang, während seine Augen stetig zwischen den zwei Blättern vor ihm hin und her huschten. Alles schien im schwarzen Bereich zu liegen. Er sah kurz auf, nahm mit einer Hand seine Brille von der Nase und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger der anderen Hand die Augen, setzte die Gläser wieder auf und sah sich anschliessend die Rechnungsordner durch.

Das Telefon schrillte. Missmutig nahm er den Hörer ab.
„Müller!“ Er lauschte.
„Mmh. Ja. “ Er nickte und horchte wieder der Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Jetzt?“ Himmelherrgottnochmal, das darf doch jetzt wohl nicht wahr sein!
„Ja, ja, ich werde es sofort heraussuchen und ihnen dann gleich faxen!“ 
Er klatschte den Hörer auf die Gabel, schnaubte empört, während sein Blutdruck weiter in ungeahnte Höhe schnellte. Er lockerte seine Krawatte, öffnete, mit einem hin und her Recken seines Kopfes, den obersten Knopf seines Hemdes und schob sich dann seine schwarzen Hemdschutzärmel bis zu den Ellenbogen zurück. Wieder zog er sich die Brille von der Nase und fuhr sich mit dem Unterarm über das mittlerweile schweissbenetzte Gesicht. 
Er wollte sich gerade von seinem Stuhl erheben und im Schrank die Akte heraus suchen, als Meissner, vollbeladen, mit einem schweren Karton in den Armen, schon wieder in sein Büro platzte. „Verzeihung Herr Müller“, sagte er keuchend, während er den Karton auf Müllers Schreibtisch abstellte und dabei unbedacht die drei Stapel Quittung umwarf, sodass sich die Blätter nun kreuz und quer über der Tischplatte verteilten und einige davon sogar wild durcheinander zu Boden flatterten. „Die wurden mir soeben abgegeben. Sicher haben sie die vermisst. Sind noch die Einnahmen der letzten zwei Wochen!“ Meissner grinste Müller mit einem entschuldigendem Schulterzucken hämisch an, wischte die Hände an seinen Hosen ab und eilte wieder zum Büro hinaus.
Müllers Augäpfel quellten beinahe über. Er atmete deutlich laut hörbar ein und griff sich an seine Brust. Sein Blutdruck hatte soeben seinen Höhepunkt erreicht!

 

„Herr Müller!“ Jemand tätschelte ihm ins Gesicht. „Wachen sie auf!“
Müller hob flatternd die Augenlider. Verschwommen nahm er das Gesicht Meissners über sich wahr. Er setzte sich schwerfällig auf, rieb sich den Hinterkopf und blinzelte ein paar Mal, um wieder klarer sehen zu können.
„Was ist passiert?“, fragte er mit noch belegter Stimme und rückte sich seine Brille auf der Nase zurecht.
„Sie sind gestorben!“ Kam die prompte Antwort.
Müller runzelte die Stirn und sah verdriesslich zu Meissner hoch, der inzwischen aufgestanden und nun bemitleidenswert zu ihm herunter schaute.
Der ist doch wohl bekloppt! „Ein echter Witzbold, was?“, entgegnete Müller nicht gar so taktvoll und erhob sich ebenfalls.
Meissners Miene zeigte keinerlei Regung. „Ich mache keine Witze, Müller. Dafür sollten sie mich besser kennen!“
Müller klopfte sich den Staub von den Kleidern und sah Meissner nun sauer an.
„Jetzt hören sie schon auf. Wie soll ich gestorben sein, wenn ich hier stehe und mit ihnen rede?“
„Sehen sie sich um Müller und dann sagen sie mir, was sie sehen?“
Müller blinzelte verwirrt, machte aber was Meissner von ihm verlangte. Er besah sich die weissgetünchten Wände seines kleinen Büros, seinen grossen hölzernen Schreibtisch mit der grünen Tischplatte, seinen ledernen Bürostuhl und dann schliesslich seinen Aktenschrank. Alles wie gehabt! Nein halt, das stimmte nicht ganz. Sein Blick schweifte zurück zu seinem Pult, der fein säuberlich aufgeräumt war. Kein einziges Stück Papier lag mehr darauf. Weder Quittungen, Rechnungen, noch sonst irgendwelche Ordner mit Arbeit.
„Und?“, fragte Meissner.
„Sie habe aufgeräumt!“
Meissner verdrehte die Augen. „Nein, ich meinte nicht das. Schauen sie genauer hin!“, forderte er Müller nun etwas energischer auf.
„Sie wollen mich wohl verar…“ Müllers Stimme versagte und er runzelte die Stirn, als sich das Bild vor seinen Augen auf einmal veränderte. Das Mobiliar und die Wände um ihn herum schienen sich einfach in Luft aufzulösen und plötzlich standen er und Meissner in einem weissen Nebel.
Müller schluckte trocken, kniff die Augen fest zusammen und schüttelte benommen den Kopf.
Ich träume! Dies ist alles nur ein Traum! Doch als er die Augen wieder öffnete, stand er nach wie vor in der Wolke; oder was dieser weisse Dunst auch immer war, denn er fühlte ganz deutlich einen festen Boden unter seinen Füssen. Er stampfte fest mit einem Fuss auf und kniff sich selbst, wie zur Selbstbestätigung, in den Unterarm.
Dann drehte er sich um die eigene Achse, dachte dass dies nur ein abgekartetes Spiel, eine Illusion war, die Meissner ihm vorgaukelte. Bestimmt hatte dieser Mistkerl irgendwo eine Trockeneismaschine aufgestellt, sodass das Büro nun im Dunst eingehüllt und jetzt nicht mehr zu erkennen war! Er machte ein paar Schritte nach vorn und streckte die Arme aus, mit der sicheren Gewissheit eine Wand dahinter zu ertasten, doch seine Hände griffen einfach nur durch die wabernden Nebelschwaden hindurch. 
„Nun? Können sie es jetzt erkennen?“, fragte Meissner ganz beiläufig und betrachtete dabei seine Fingernägel.

Müller wandte sich entgeistert zu Meissner um und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. 
„Wie?“ Er musste sich räuspern. „Wie habe sie das gemacht?“

Meissner hob eine Augenbraue: „Ich? Ich habe überhaupt nichts gemacht, Müller.“ 
„Aber es muss doch für das alles hier eine logische Erklärung geben.“ Müller hob dabei beide Arme und zeigte um sich.
Meissner seufzte theatralisch: „Tzzz…, tzz…, tzz… Herr Müller. Jedes Mal das Gleiche mit ihnen. Sie glauben mir einfach nicht!“ 
Müller sah Meissner mit zusammengekniffenen Augen an. „Was glaube ich ihnen nicht?“
„Na, dass Sie tot sind!“

„Jetzt aber mal halblang, Herr Meissner!“ Empört bohrte er Meissner den Zeigefinger in die Brust. Doch der Finger stiess auf keinen Widerstand, sodass seine ganze Hand glatt durch Meissner hindurch stiess. Müller schluckte trocken, zog hastig seinen Arm zurück und sah ungläubig auf seine Hand -Okay..., das ist jetzt aber doch irgendwie völlig abartig. Sein Arm schoss noch einmal vor und versank abermals in Meissners Brust. Dann sah er zu Meissner hoch, der nur schweigend und mit hochgezogenen Augenbrauen auf Müllers Hand schaute, die ihm in seiner Brust steckte. 

Mit einem „Oh!“, zog Müller hastig seine Hand zurück und versteckte sie hinter seinem Rücken, während er unschuldig fragte: „Ich bin wirklich tot? Tot als töter?“ 
Meissner nickte. 
Nun sah Müller doch ein wenig besorgter um sich, drehte sich abermals im Kreis und zeigte dabei auf den wabernden Nebel um sich. „Dann ist das der Himmel?“
Meissner schüttelte den Kopf.

„Nein?“

„Nein!“ Ein diabolisches Leuchten glomm auf einmal in Meissners Augen auf und sein ausgestreckter Zeigefinger wies nach unten.

Müller wich entsetzt vor Meissner zurück. „Aber… aber… das kann nicht sein! Warum? Ich habe mir nie etwas zu Schulden kommen lassen.“

Meissner grinste. „Ach nein? Und was ist mit Ihren Verwünschungen, weil sie glauben, nur Sie hätten schwere Arbeit zu leisten, was mit Ihrer ständigen Eifersucht auf Ihre Kollegen, weil die mehr verdienten als Sie selber. Was ist mit Ihrem Hass auf Ihren Chef, weil der Sie ständig zur Nachschicht nötigte, und was ist dann noch mit dem Zweifeln an Ihrem eigenen Selbstvermögen?“ 
„Aber das ist doch kein Grund…“

„Herr Meissner, das sind nur wenige Beispiele, die ich Ihnen hier aufzähle“, unterbrach Meissner Müllers Frage wirsch. „Wenn ich mir noch Ihr gesamtes Privatleben anschaue…“ Meissner schüttelte verdrießlich seinen Kopf. „Nein Herr Müller Sie sind kein Unschuldslamm! Außerdem glauben Sie nicht mal an sich selbst! Mit Ihren Handlungen und Ihrem Denken haben Sie sich Ihre eigene Hölle erschaffen. Darum werden sich Ihre schlimmsten Albträume immer und immer wieder wiederholen und dies solange, bis Sie Ihre Fehler erkennen und Sie zur wahren Einsicht gelangen!“ 
Müller erbleichte, sein Atem setzte aus, dann wurde langsam alles schwarz um ihn herum. Das Letzte, was seine schwindenden Sinne noch wahrnahmen, war, wie sich sein Büro vor seinen Augen wieder manifestierte.